Valerans Tagebuch #5

29.11., Die Straßen sind in schlechtem Zustand, obwohl der Schnee getaut ist. Oder vielleicht gerade deswegen, denn immer wieder rollen wir durch tiefen Schlamm und die Zugtiere schaffen es kaum, ihre schwere Last voran zu bringen.
30.11., Die meisten Männer und viele der Frauen reiten. Andere besitzen keine eigenen Pferde und zu denen habe ich mich gesellt, um meine Tarnung aufrecht zu halten. Bisher reisten wir in Wagen. Doch seit gestern sind wir abgestiegen, um den Zugtieren ihre Arbeit zu erleichtern, und gehen zu Fuß. Ich bin völlig erschöpft, kann mich kaum noch auf den Beinen halten.
03.12., Ich sinke abends wie tot auf mein Lager, war sogar zu müde, wenige Zeilen ins Tagebuch zu schreiben. Heute konnte ich kaum noch laufen, blutige Blasen an den Füßen. Ich musste mich auf einen Wagen setzen. Fühle mich schlecht, weil alle anderen weiter zu Fuß gehen müssen.
04.12., Die Straße führt durch dichten Wald. Jäger schwärmten aus, um Wild zu jagen. Abends im Lager gab es eine Art Fest, alle durften so viel von dem gebratenen Fleisch essen, wie sie wollten und konnten. Jeder war fröhlich. Diese Leute sind auf den ersten Blick mürrisch und verschlossen. Aber wenn man sie näher kennen lernt, sieht man, dass sie lebenslustig sind und sich an allem freuen können, was gut ist, und sei es noch so gering. Wir sollten manches von ihnen lernen.
05.12., Ein Adliger mit Soldaten verfolgte unseren Zug. Er warf den Nomaden vor, sie hätten sein Wild gestohlen. Die Stimmung war so feindselig, dass ich fürchtete, es käme zum Kampf. Aber einige weise, vernünftige Männer schlichteten. Der Stamm bezahlte für das Essen mit dem wenigen Silber, das sie besitzen.
06.12., Die Gegend, durch die wir ziehen, wird trockener, die Bäume seltener.
07.12., Ich fürchte, ich muss mich entscheiden. Will ich mit den Nomaden in die Steppe ziehen, oder unter Meinesgleichen leben? Heute Abend passieren wir die letzte größere Siedlung vor dem Grenzland.
08.12., Ich hatte Tränen in den Augen, als ich den letzten Reitern hinterher sah, die am Ende des Zuges die Nachhut bildeten. Ich musste mir eingestehen, dass ich für das stete Herumziehen nicht geschaffen bin. Aber ich werde diesen Menschen, die mich bereitwillig aufgenommen hatten, auf ewig dankbar sein.
09.12., Glücklicherweise gab es in diesem Ort einen Pelorschrein. Ich offenbarte mich dem Mönch, der ihn betreute, und er gab mir einen Schlafplatz für die Nacht. Aufgrund meiner Verkleidung halten mich alle für eine Nomadin, ich muss mir andere Sachen zum Anziehen besorgen.
10.12., Ich arbeite wieder als Kellnerin. Es ist zwar ein ziemlich heruntergekommener Laden, aber die Frau des Wirts ist freundlich zu mir. Mehr kann ich vermutlich im Moment nicht erwarten.
11.12., Ich muss mich an die Anzüglichkeiten und Grobheiten der Kneipengäste erst wieder gewöhnen. Das ist nicht leicht, nachdem ich davor unter Menschen lebte, die mir mit Freundlichkeit und Respekt begegneten, obwohl ich eine Fremde für sie war. Habe ich mich richtig entschieden, mich von den Nomaden zu trennen?
12.12., Noch ein Tag unter Betrunkenen. Ich hasse diese Arbeit.
13.12., Ich hasse mich. Als ich den Müll in den Hof brachte, lag dort ein Gast, den der Alkohol auf dem Weg zum Abtritt umgehauen hatte. Sein Geldbeutel war aufgegangen und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Münzen zu nehmen, die herausgerutscht waren. Ist Gold es wert, meine Seele zu gefährden? Aber ich brauche Geld, um hier irgendwann heraus zu kommen.
14.12., Den ganzen Tag über wartete ich furchtsam darauf, dass der aus seinem Koma erwachte Gast, dem ich das Gold gestohlen hatte, mich beschuldigen würde. Doch es passierte nichts. Vermutlich hat er keine Ahnung, was geschah. Vielleicht bemerkte er gar nicht, dass ihm Geld fehlt.
15.12., Ich habe gekündigt. Schlafe wieder im Schrein. Unter dem Dach Pelors zu sein, beruhigt mich. Aber das schlechte Gewissen vergeht nicht.
16.12., Leider braucht der Mönch keine Gehilfin. Ich muss mir etwas anderes suchen. Das Geld kann ich in diesem Dorf nicht ausgeben. Es würde auffallen, wenn eine mittellose Kellnerin plötzlich mit Goldmünzen bezahlt.
17.12., Ich fand eine Mitfahrgelegenheit bei einem Bauern, der Rüben in die nächste Stadt fuhr. Dort mietete ich eine kleine Kammer. Ich sollte Arbeit finden, denn das Gold wird nicht für immer reichen. Was kann ich tun? Außer Bedienen habe ich nichts gelernt.
18.12., Auf der Suche nach Arbeit bin ich durch die Stadt gewandert. Kann mich nicht überwinden, wieder als Bedienung in einer Gaststätte zu arbeiten. Die besseren Häuser suchen derzeit keine Angestellten.
19.12., Habe ein Gerücht gehört, dass jemand, den die Nomaden „Auserwählter“ nennen, einen Fluch gebrochen hat und sie wieder in ihr Heimatland zurückkehren können. Ach, ich würde es diesen netten Leuten wirklich gönnen.
20.12., Bei der Arbeitssuche begegnete ich einem reisenden Barden. Er nennt sich Jérome Cantat. Er brachte mich auf die Idee, dass ich in einem Schloss oder Adelssitz versuchen könnte, eine Anstellung zu finden. Er ist bereit, mich bei seiner nächsten Reise mitzunehmen, weil er auch an solchen Orten auftritt.
21.12., Jérome kann mir nicht sagen, wann er weiter zieht. Er will so lange in der Stadt bleiben, wie sein Publikum bereit ist, gut zu bezahlen. Jetzt weiß ich wieder nicht, wovon ich bis zur Abreise leben soll.
22.12., Als ich heute Nachmittag Jérome aufsuchte, bat er mich spontan, während seines Auftritts unter den Zuhörern herumzugehen und Geld einzusammeln. Erfreut stellte er fest, dass er auf diese Weise mehr einnahm, als wenn er selbst erst nach dem Singen um Bezahlung bittet, und schlug vor, dass ich dies ab sofort immer tue. Gegen einen kleinen Anteil natürlich.
23.12., Die Arbeit mit Jérome ist gar nicht so übel. Er tritt in besseren Häusern auf, als die Kaschemmen, in denen ich früher bediente. Und das Einkommen ist auch gut.
24.12., Jérome wollte, dass ich etwas singe. Er meint, meine Stimme sei sehr gut. Er will, dass ich mit ihm auftrete. Ich weiß nicht. Das wäre mir peinlich.

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