Der Untergang Aventernas

Ich überquerte die Brücke über den innersten Kanal unserer großartigen Stadt auf dem Weg zu Laimachos. Ich hatte gestern auf dem Marktplatz einem Redner zugehört, der sich selbst als Seher bezeichnete. Er war überzeugt gewesen, dass der Feldzug unseres großen Königs Polimnaos gegen die nördlichen Inselreiche in einer Niederlage enden und unser gesamtes Volk den Zorn dieses neuen Gottes, Poseidon, zu spüren bekommen würde.
Nur die göttliche Gemahlin unseres Patrons Okeanus könne uns retten, behauptete er. Okeanus sei dem Neuen unterlegen und Thetys würde an seiner Statt die Herrschaft über die Meere zurückerlangen und sich unser annehmen.
Es war natürlich zu erwarten gewesen, dass ein solcher Unruhestifter sofort in die Kerker des Palastes geworfen werden würde. Doch genau dieser Umstand hatte mich beunruhigt. Er musste gewusst haben, dass es so kommt. Warum also war so selbstsicher gewesen als man ihn abgeführt hatte?
Ich musste unbedingt zu Laimachos, meinem Freund und womöglich dem zurzeit weisesten Mann in ganz Aventerna. Und das war nicht zu unterschätzen, denn schließlich umfasste unser Reich nun, auf dem bisherigen Höhepunkt unserer Macht, fast alle Landmassen die uns bekannt waren. Ich musste mit ihm sprechen, musste ihm berichten was vorgefallen war, wenn er es nicht schon wusste, und dann wollte ich von ihm hören, dass alles nur eine Spinnerei dieses selbsternannten Sehers war.

Doch als ich den höchsten Punkt der Brücke überschritten hatte, bot sich mir ein verstörender Anblick. Der königliche Park war verwüstet, einem Schlachtfeld gleich. Überall lagen weggeworfene Schilde und abgenommene und achtlos hingeschmissene Rüstungen, sogar die verzierten Brustplatten der hohen Generäle konnte ich erkennen. Als ich durch den Park wanderte hörte ich immer deutlicher Geräusche von Bauarbeiten. Als das erste Tor in Sicht kam konnte ich auch erkennen, was hier gebaut wurde: Schiffe wurden zerlegt und mit dem Holz alle Türen und Fenster verrammelt.
Ich musste mich beeilen, wenn ich es noch zu Laimachos schaffen wollte, daher rannte ich los. Meine Zeit als Soldat war schon seit einigen Jahren vorbei und seitdem hatte ich nicht viel Sport getrieben. Das rächte sich nun. Schon nach einigen Metern brannten meine Beine und kurz darauf versagte mir meine Lunge den Dienst. Ich fiel wie ein Sack ins Gras. Ich wollte mich aufrappeln, doch ein stechender Schmerz im Rücken hielt mich davon ab.
Ich war verzweifelt. Weniger mein körperlicher Zustand machte mir Sorgen, mein magiebegabter Sklave würde das schon richten, die Ungewissheit jedoch, was vor sich ging nagte an mir wie ein Hai am Kadaver eines über Bord gespülten Seemanns.

Da drang eine wohlbekannte Stimme an meine Ohren. Laimachos. Aber was machte er außerhalb des Palastes? „Lysander, bist du das? Was tust du hier? Und warum rennst und springst du erst so schnell wie ein Delphin um dann in die Tiefen des Anglerfisches vorzustoßen? Was machst du überhaupt hier in diesen aufgewühlten Gefilden, die deiner Aufmerksamkeit schon lange nicht mehr bedürfen?“
Ich schaffte es gerade noch mit einiger Anstrengung meinen Kopf zu heben und erkannte ihn, wie er, trotz seines Alters noch sehr agil, auf mich zukam, ein offenes Lächeln auf den wettergegerbten und von kleinen Falten und Narben gezierten Zügen. Er war lange zur See gefahren, erst als Fischer, dann als einfacher Soldat und zuletzt als Admiral. Er hatte viele Unternehmungen geleitet und große Siege errungen. Keiner kannte die See oder die Winde so gut wie er. Seine Ausdrucksweise war gewöhnungsbedürftig, da er so ziemlich alles mit Fischen und anderem Meeresgetier verglich, jedoch, wenn man den Sinn hinter seinen Worten erkannte, konnte man viel Weisheit darin finden.
„Ich wollte zu dir“, presste ich heraus. Er sah mich erwartungsvoll an, als ich jedoch nichts mehr hinzufügte las er meine Züge, überlegte kurz und schien zu erkennen worum es ging.
„Du hast von diesem Seher gehört, stimmt´s?“, sagte er spöttisch. „Im Palast geht es drunter und drüber seit er diesen Dummköpfen von Kerkerwächtern von unserem bevorstehenden Ende erzählt hat. Es hat sich ausgebreitet wie ein Lauffeuer. Sogar die Generäle sind von seiner Geschichte überzeugt. Es war auch nicht sehr vorteilhaft, dass der erste Teil seiner Prophezeiung anscheinend eingetroffen ist.“
Der Schock, den diese Nachricht in mir auslöste, beendete den Schmerz in meinem Rücken. Ich sog einmal tief die Luft ein und sprang auf, fast so gelenkig wie in meinen jungen Tagen.
„Der Feldzug ist gescheitert? Seit wann weißt du es?“, fragte ich bestürzt. Meine Stimme überschlug sich fast.
„Gestern kam eine Truppe von Soldaten zurück, sie hatten Polimnaos Leichnam dabei. Er wurde in seinen Gemächern aufgebahrt.“, kam die Antwort, so sachlich wie nur Laimachos den Tod aussprechen konnte. Zeit, ihn ob dieser pragmatischen Weltsicht zu beneiden, hatte ich nicht. Ich war einer Panik nahe. Ich konnte die Generäle nur allzu gut verstehen. Ich hatte nicht nur die Geschichte gehört, sondern auch das Gesicht des Sehers gesehen. Dieser Mann war sich absolut sicher gewesen.

Ich sah zu Boden um einen Punkt zu fixieren, denn ich wollte dem Schwindelgefühl, das sich meiner bemächtigte, nicht nachgeben und wieder hinfallen. Als ich mich wieder gefangen hatte, sah ich zu Laimachos und wollte ihn gerade bitten, mir alle Tatsachen aufzuzählen, die die Prophezeiung als Trick entlarvten, doch sein Blick war nicht mehr auf mich gerichtet.

Stattdessen sah er dem Horizont entgegen. Als ich seinem Blick folgte, sah ich es auch: Eine riesige Welle erhob sich dort in den Himmel. Sie war so groß, dass ich sie von hier aus sehen konnte obwohl sie nicht weniger als 70 Kilometer entfernt sein konnte, denn in etwa dort lag die Küste.
Meine Augen waren von meinem Alter noch nicht beeinträchtigt und bei genauerem Hinsehen konnte ich in der Welle viele goldene und weiße Flecken erkennen. Entweder waren das riesige Fische oder nahezu unsere komplette Flotte, gepanzerte Schiffe, größer als die meisten großen Häuser anderer Kulturen, die breiten Decks mit mehreren Masten bestückt.

Die Zeit schien langsamer zu werden. Während Laimachos und ich unbeweglich wie Säulen dastanden, wurde die Welle immer größer und neigte sich allmählich uns entgegen.
Plötzlich erschütterte ein Beben die Insel unter unseren Füßen und warf uns zu Boden. Laimachos löste sich aus seiner Starre. „Sieh nur wie die Welle ganz plötzlich gewachsen ist! Das kann nur bedeuten, dass die Insel sinkt!“, kreischte er. Ich hatte ihn noch nie so in Angst erlebt.
Ich für meinen Teil hatte genug gesehen. Noch zwei Erdstöße bekam ich mit, dann spürte ich erste Wassertropfen auf meinem Gesicht und Alles wurde schwarz…

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